Wir alle stellen uns unter dem Begriff der Blindheit ein Kind vor, welches nichts sehen oder die Objekte nicht erkennen kann. Man könnte etwas zugespitzter auch sagen, dass es sehende und blinde Kinder gibt. Doch können wir diese klare Abgrenzung so stehen lassen? Denn vielmehr ist der Begriff blind oder Blindheit ein Unterbegriff für das Feld der Sehbeeinträchtigungen.
Ob jemand blind ist oder nicht, entscheidet sich nach klaren Zahlen. Nach der Versorgungsmedizin-Verordnung ist eine Person blind, wen das Augenlicht vollständig fehlt oder wer auf dem besseren Auge oder beidäugig eine Sehschärfe von nicht mehr als 0,02 (1/50) besitzt (Teil A. 6. a der Anlage zu § 2 VersMedVO). Hierbei bedeutet der Wert 1/50, dass ein Kind einen Gegenstand aus einem Meter Entfernung erkennen kann, währenddessen ein nicht sehbeeinträchtigtes Kind den Gegenstand aus 50 m Entfernung erkennen kann. Die WHO wiederum klassifiziert Blindheit nach Stufe 5 durch fehlende Wahrnehmung von Lichtschein. Hier gibt es also verschiedene Ansätze. (Vgl. Pfau, Destatis, Kern, Wolfram & Kalcklösch, 2017)
Ein blindes Kind kann dennoch oftmals noch Hell-/Dunkelkontraste oder Umrisse von Personen und Objekten erkennen. Aus diesen Gründen ist auch die Frühförderung eine immens wichtige Grundvoraussetzung für die bestmögliche Entwicklung eines jeden Kindes mit Einschränkungen des Sehorgans. Doch schaut man nach den Zahlen für Deutschland stellt man schnell fest, dass es überhaupt nur Schätzungen und Hochrechnungen für den Anteil an sehbehinderten aller Altersgruppen gibt. Für den Bereich der sehbehinderten Kinder gibt es noch weniger belastbare Zahlen.
Das ZBFS (Zentrum Bayern Familie und Soziales) beispielsweise erfasste im Jahr 2020 für Bayern insgesamt 12.397 Personen mit Sehbehinderungen die Blindengeld erhalten. Hiervon waren 3 % minderjährig, was für Bayern letztlich 372 Kinder und Jugendliche bedeutet. Bei diesen Zahlen sind hochgradig sehbehinderte Menschen nicht berücksichtigt, sodass diese Zahl für Bayern als unterstes Minimum angenommen werden kann. (Vgl. Deutscher Blinden- und Sehbehindertenverband e. V., 2022)
Die Wissenschaftlerin Prof. Dr. Renate Walthes hält fest, dass im Jahre 2014 ein Anteil von 0,021 % für Blindheit sowie 0,247 % für Sehbeeinträchtigungen anzusetzen ist. Für das Jahr 2021 würde das bei der Anwendung derselben Formel, welche mir aktuell nicht bekannt ist, ungefähr 111 blinde Kinder sowie 1.295 sehbeeinträchtige Kinder bedeuten. Dies wohlgemerkt bei einer Geburtenrate von 524.000 Kindern.
Hieraus ergibt sich dann auch ein strukturelles Problem in Deutschland für Kinder mit Blindheit und Sehbeeinträchtigung. Denn der Anteil dieser Gruppe ist sehr gering und so im Alltag kaum vertreten. Dies stellt letztlich nicht nur die Kinder und deren Eltern vor große Herausforderungen, sondern vielmehr auch die pädagogischen Fachkräfte wie Erzieherinnen oder Lehrer. Denn nach Walthes bestanden im Jahr 2014 für ganz Deutschland nur 62 Frühfördereinrichtungen für blinde und sehbehinderte Menschen, währenddessen es in ganz Deutschland insgesamt ca. 33.000 Kindertageseinrichtungen gab. (Vgl. Sarimski & Lang, 2020, S. 15ff.)
Blinde Kinder professionell fördern
Gerade bei Kindern mit Einschränkungen und Behinderungen muss der komplexe Bereich der Frühförderung ganzheitlich betrachtet werden. In diesem spielen die Eltern und das Umfeld des Kindes eine wesentliche Rolle. Denn die Eltern sind in dieser Situation einer großen mentalen Belastung ausgesetzt.
“Die Förderung sehbeeinträchtiger und blinder Kinder ist stets ein ganzheitlicher Prozess, welcher in die familienorientierte Frühförderung führt.”
Wie geht es weiter? Haben wir Fördermöglichkeiten in der Nähe? Wie soll das alles finanziert werden? Gibt es eine Kita, welche mit dieser Einschränkung umgehen kann? Wie muss ich meinen Wohnort umgestalten, um Gefahren zu verhindern oder zu minimieren? Falls das alles nicht zutrifft, wie geht es nun beruflich weiter? Es sind viele Veränderungen und Herausforderungen für die Kinder und Ihren Eltern.
Dies verdeutlicht die nachfolgende Grafik nochmals:

Des Weiteren benötigen sehbehinderte und blinde Kinder sehr viel körperliche Nähe, um direkte und „verknüpfbare“ Erfahrungen machen zu können. Diese körperliche, greifbare Nähe ist neben der Sprachkommunikation insbesondere für blinde Kinder von existenzieller Bedeutung, können diese doch durch Nähe ihre Bindungspersonen wahrnehmen und aus dieser sicheren Basis heraus explorieren. Oftmals treten Einschränkungen im Sehvermögen auch mit anderen Behinderungen und Auffälligkeiten auf. Für diese sogenannte Mehrfachbehinderung ist die körperliche Nähe einer Bezugsperson auch für die Fortbewegung oder Lagerungsänderung eine unabdingbare Voraussetzung. (Vgl. Sarimski & Lang, 2020, S. 24ff.)
Gezielte Fördermöglichkeiten blinder Kinder
Wahrnehmungs- und Bewegungsförderung für Kinder
Eine Fördermöglichkeit für sehbehinderte und blinde Kinder ist die gezielte Förderung der Wahrnehmung. Aufgrund einer vorliegenden Einschränkung des Sinnesorgans Sehen werden automatisch die anderen Sinne wie Fühlen oder Hören verstärkt angewandt. Hierbei wird gerade im Bereich der Vorschule die Wahrnehmung intensiv durch Bewegung vertieft. Diese Wahrnehmungsförderung wird Bewegungsförderung genannt.
Visuelle Wahrnehmungsförderung
Hauptziel der visuellen Wahrnehmungsförderung bei sehbehinderten sowie blinden Kindern ist stets die bestmögliche Nutzung vorhandener Sehressourcen. Bereits geringe Sehleistungen können im Alltag eine große Unterstützung für Kinder sein, denn gerade im Bereich der Orientierung oder bei den üblichen Tätigkeiten zur Bewältigung des Alltags können diese die haptischen und auditiven Wahrnehmungen unterstützen. Für die visuelle Wahrnehmungsförderung gibt es heutzutage die verschiedensten Möglichkeiten. Einige Möglichkeiten sind beispielsweise:
- Brille
- Alltagsmaterialien
- Lichtpulte mit entsprechendem Material
- Computerprogramme
- Bildmaterial
- Kinderbücher
- Licht-/Dunkelzimmer
- Lupenbrille
- Bildschirmlesegerät
Wichtig zu beachten ist jedoch, dass die gezielte visuelle Wahrnehmungsförderung auf das jeweilige Kind individuell abgestimmt werden muss. Hierbei orientiert man sich einerseits auf die Reaktionen des Kindes und überprüft, auf welches Material oder welche Aktion eine Reaktion des Kindes folgt? Letztlich genügen einzelne und isoliert von der Gesamtförderung geplante Maßnahmen einer professionellen Förderung nicht. (Vgl. Heyl & Lang, 2021, S. 122ff.)
Literacy | Entdecken der Braille-Schrift
Blinde Kinder sowie Kinder, deren Sehfähigkeit sehr stark eingeschränkt ist, haben im Alltag keinen Kontakt zu Literacy fördernden Objekten in der Umgebung wie beispielsweise Texte, Bücher, Beschriftungen, Werbung und ähnlichen Objekten. Dies unterscheidet eingeschränkte Kinder sehr stark in Vergleich zu Kindern mit normalen Sehleistungen, welche bereits im Kleinkindalter diese Erfahrungen machen. Für blinde und eingeschränkte Personen wurde die Braille-Schrift eingeführt. Problem hierbei ist jedoch, dass diese im Alltag der Kinder nicht vorkommt und andererseits auch nicht von den Kindern gesehen werden kann. Die Kinder können diese somit nicht mit anderen Reizen verknüpfen.
Vor dem Schriftspracherwerb in der Schule findet in der frühen Kindheit das sogenannte „Emergent Literacy“ statt. Diese spielt insbesondere für die pädagogische Arbeit mit sehbeeinträchtigten und blinden Kindern eine immens wichtige Rolle, da die literarischen Grundlagen durch gezielte Maßnahmen vermittelt werden müssen. Hierbei gibt es gewisse homogene Schritte mit der Entwicklung sehender Kinder. In einigen Bereichen gibt es jedoch, auch gerade im Hinblick auf die Braille-Schrift, besondere Voraussetzungen an das Lesen und Schreiben.
Die Braille-Schrift sollte daher so früh wie möglich in den Alltag der Kinder Einzug halten und sollte mit anderen Maßnahmen verbunden werden. Auch hierbei ist wieder die Einbindung des familiären Umfelds des Kindes unabdingbar. (Vgl. Sarimski & Lang, 2020, S. 110ff.)
Basale Stimulation bei Blindheit
Die basale Stimulation ist sicher vielen ein Begriff. Die wenigsten wissen jedoch, dass die basale Stimulation von Prof. Dr. Fröhlich gezielt für die Früh- und Wahrnehmungsförderung bei körperlich und geistig schwerbehinderten Kindern, ergo Sonderpädagogik, entwickelt wurde. Das Konzept der basalen Stimulation beruht auf dem gezielten Auslösen einzelner Reize des menschlichen Körpers. Die Anwendung dieser Methode fördert bei beeinträchtigten Kindern ihre Wahrnehmungs-, Kommunikations- sowie Bewegungsfähigkeit.
Vorteile der Maßnahme sind eine erstaunlich breit gefächerte Entwicklungsanregung, insbesondere in der frühen Kindheit. Sie dient den Kindern als Orientierung in neuen und veränderten Situationen und wirkt gezielt angewendet auch Stress-reduzierend.
Für pädagogische Maßnahmen eignet sich die gezielte basale Stimulation durch das Schaffen gezielter Bewegungsanlässe zur Förderung der Eigenaktivität. Die basale Stimulation verfolgt somit einen ganzheitlichen und körperbezogenen Ansatz. (Vgl. Künnecke, 2017, S. 13ff.)
Alltagsprobleme, die für blinde Kinder (keine) sind
Der Alltag von Kindern mit Blindheit oder einer starken Sehbehinderung sollte, ebenso wie bei allen Kindern, von Struktur, Vorhersehbarkeit und nachvollziehbaren Abläufen geprägt sein, da diese Verlässlichkeit Sicherheit und Orientierung bietet. Viele potenzielle Einschränkungen im täglichen Leben können durch gezielte Maßnahmen, kreative Anpassungen und die Förderung anderer Sinne oft deutlich minimiert oder sogar kompensiert werden, sodass sie für das Kind keine unüberwindbaren Hürden mehr darstellen.
Im privaten Umfeld, aber auch in Kindertagesstätten, gibt es bewährte Methoden, um die Orientierung zu erleichtern. Dazu gehören auf dem Boden angebrachte dicke Linien, idealerweise mit einer spürbaren Textur, die als Leitsystem innerhalb von Räumen und Fluren dienen können. Farbliche Veränderungen an Knotenpunkten, wie Türrahmen, Treppenstufen oder Übergängen zu anderen Räumen, helfen durch die verstärkte Kontrastwirkung sehbehinderten Kindern, wichtige Bereiche besser zu erkennen. Auch kontrastreiches Geschirr auf einem einfarbigen Tischset kann die Nahrungsaufnahme erleichtern. Ebenso wichtig sind feste Plätze für Spielzeuge, Kleidung und Alltagsgegenstände, da dies die Selbstständigkeit fördert und Suchzeiten reduziert. Darüber hinaus können unterschiedliche Bodenbeläge in verschiedenen Bereichen akustische Signale liefern, und auch alltägliche Geräusche können unbewusst zur Orientierung beitragen. Die Kompensation durch andere Sinne ist hierbei fundamental: Das Einschenken von Flüssigkeiten in Gläser oder andere Behälter ist ein klassisches Beispiel, wie andere Sinneswahrnehmungen Seheinschränkungen ausgleichen können. Das Kind kann lernen, einen Finger knapp über den inneren Rand des Gefäßes zu halten und spürt so rechtzeitig, wann es voll ist; alternativ gibt es Füllstandsanzeiger, die ein akustisches oder Vibrationssignal abgeben. Ebenso kann der Geruchssinn beim Unterscheiden von Lebensmitteln oder der Tastsinn beim Identifizieren von Gegenständen oder beim Anziehen – beispielsweise durch das Ertasten von Nähten oder Etiketten zur Unterscheidung von Vorder- und Rückseite – intensiv geschult und genutzt werden.
Viele Tätigkeiten, die sehende Kinder oft durch Nachahmung lernen, müssen blinden oder stark sehbehinderten Kindern explizit und oft kleinschrittig beigebracht werden. Bei der Nahrungsaufnahme kann neben dem sicheren Einschenken die „Uhrzeitmethode“ helfen, bei der die Position der Speisen auf dem Teller wie auf einem Zifferblatt erklärt wird, um die Orientierung zu erleichtern. Das sichere Führen von Besteck erfordert ebenso Übung wie das An- und Ausziehen, wobei das Erkennen von Kleidungsstücken, das Unterscheiden von vorne und hinten sowie das Schließen von Knöpfen und Reißverschlüssen taktil erlernt werden müssen. Auch im Spiel ist eine Anpassung sinnvoll, indem Spielzeug ausgewählt wird, das taktile und akustische Reize bietet, wie etwa Bauklötze mit unterschiedlichen Oberflächen, Rasseln oder Klangbücher. Beim gemeinsamen Spiel mit sehenden Kindern ist es zudem oft hilfreich, wenn Handlungen verbalisiert werden.
Die Frage, ob ein Kind mit Sehbehinderung oder Blindheit einen Regelkindergarten oder eine spezialisierte Einrichtung besuchen soll, stellt Eltern oft vor eine schwierige Entscheidung, da in Deutschland das Angebot an spezialisierten Kindergärten begrenzt ist. Ein Regelkindergarten kann zwar Vorteile hinsichtlich der wohnortnahen Betreuung und der Integration mit sehenden Kindern aus der Nachbarschaft bieten, stellt jedoch oft hohe Anforderungen an das Personal, das möglicherweise nicht über spezifische sehbehindertenpädagogische Kenntnisse oder ausreichend Ressourcen für eine intensive Einzelbetreuung verfügt. Eine zusätzliche Unterstützung durch mobile sonderpädagogische Dienste oder Frühförderstellen ist hier oft unerlässlich. Ein spezialisierter Kindergarten hingegen bietet in der Regel kleinere Gruppen, speziell geschultes Personal und eine auf die Bedürfnisse sehbehinderter Kinder zugeschnittene Umgebung und Förderangebote, wie etwa eine frühe Anbahnung der Braille-Schrift oder Orientierungs- und Mobilitätstraining, auch wenn dies unter Umständen einen längeren Anfahrtsweg bedeutet. Die Entscheidung muss stets individuell getroffen werden, unter Berücksichtigung der spezifischen Bedürfnisse und Fähigkeiten des Kindes, der personellen und sächlichen Ausstattung der jeweiligen Einrichtung sowie der Unterstützungsmöglichkeiten im Umfeld, wobei eine enge Abstimmung zwischen Eltern, Ärzten – insbesondere Augenärzten und Kinderärzten –, Therapeuten und Pädagogen entscheidend ist.
Letztlich lassen sich viele dieser „Alltagsprobleme“ durch eine gut koordinierte, interdisziplinäre Zusammenarbeit von Eltern, Erziehern, Frühförderstellen, (Kinder-)Ärzten, Augenärzten, Orthoptisten, Sehbehinderten- und Blindenpädagogen, Ergotherapeuten, Physiotherapeuten und gegebenenfalls weiteren Fachkräften effektiv angehen, mildern oder sogar ganz auflösen. Diese Fachleute können gemeinsam individuelle Förderpläne entwickeln und die Eltern bei der Umsetzung im Alltag unterstützen. Dennoch bleibt die professionelle Förderung sehbeeinträchtigter oder blinder Kinder eine kontinuierliche Herausforderung, insbesondere für nicht spezialisierte Kindertagesstätten, die auf externe Unterstützung und Fortbildung angewiesen sind, um eine inklusive Umgebung zu schaffen, in der sich alle Kinder optimal entwickeln können.
Quellen
- Deutscher Blinden- und Sehbehindertenverband e. V. (Hrsg.). (2022). Zahlen & Fakten. Es gibt kaum belastbares Zahlenmaterial zu Sehbehinderung und Blindheit in Deutschland. Ausnahme ist die Datenlage zur Häufigkeit von Augenkrankheiten in Deutschland. Zugriff am 01.03.2022. Verfügbar unter: https://www.dbsv.org/zahlen-fakten.html
- Heyl, V. & Lang, M. (2021). Pädagogik bei Blindheit und Sehbehinderung (Kompendium Behindertenpädagogik, 1. Auflage). Stuttgart: Kohlhammer.
- Künnecke, I. (2017). Bildung von Schüler_innen mit schwerer Mehrfachbehinderung. Christy-Brown-Schule. Zugriff am 01.03.2022. Verfügbar unter: https://www.christy-brown-schule-vs.de/downloads/Bildung von Sch%C3%BCler_innen mit schwerer Mehrfachbehinderung.pdf&chunk=true
- Sarimski, K. & Lang, M. (2020). Frühförderung blinder Kinder. Grundlagen für die Arbeit mit blinden Kindern und ihren Familien (bentheim, Bd. 1, 1. Auflage). Würzburg: edition bentheim.