Freie Beobachtung in der Kita

Die freie Beobachtung, auch unstrukturierte Beobachtung genannt, ist ein grundlegendes Werkzeug im Alltag von Erziehern in der Kita. Im Gegensatz zu strukturierten Beobachtungen, bei denen man sich auf spezifische Verhaltensweisen oder Situationen konzentriert, ist die freie Beobachtung offener und flexibler. Sie ermöglicht es, Kinder in ihrer natürlichen Umgebung und in spontanen Situationen zu erleben, ohne vorher festgelegte Kriterien. Für angehende Erzieher ist es essenziell, diese Methode zu verstehen und effektiv anzuwenden, um ein umfassendes Bild von jedem Kind zu erhalten und dessen individuelle Entwicklung bestmöglich zu begleiten.

Was ist eine freie Beobachtung?

Bei der freien Beobachtung geht es darum, Kinder in ihrem Spiel, bei Interaktionen mit anderen Kindern oder Erwachsenen und in alltäglichen Situationen aufmerksam zu begleiten. Man hat dabei keine Checklisten oder Beobachtungsbögen im Kopf, die abgearbeitet werden müssen. Stattdessen lässt man sich von dem leiten, was die Kinder gerade tun und wie sie sich verhalten. Das Ziel ist es, möglichst unvoreingenommen Eindrücke zu sammeln und diese anschließend zu reflektieren. Es ist eine Art des „sich Treibenlassens“ in der Beobachtung, bei der man offen für alles ist, was passiert – wie ein Detektiv, der Hinweise sammelt, ohne schon zu wissen, was am Ende herauskommt.

Warum ist die freie Beobachtung wichtig?

Die freie Beobachtung ist ein unverzichtbares Instrument in der pädagogischen Arbeit, da sie eine Reihe entscheidender Vorteile bietet. Sie ermöglicht zunächst ein ganzheitliches Bild des Kindes, indem sie über oberflächliche Eindrücke hinausgeht und seine Stärken, Interessen, Herausforderungen und Bedürfnisse umfassend erfasst. So lassen sich beispielsweise bevorzugte Spiele, der Umgang mit Konflikten, eingenommene soziale Rollen oder besondere Talente erkennen. Es geht darum, das Kind in seiner gesamten Persönlichkeit zu erfassen und nicht nur in einzelnen Aspekten. Ein weiterer Vorteil ist das frühzeitige Erkennen individueller Entwicklungsschritte. Durch präzise Beobachtung können Fortschritte in der Sprachentwicklung oder im motorischen Bereich festgehalten werden, die bei einer reinen Strukturbeobachtung möglicherweise übersehen worden wären. Dies ermöglicht es, Entwicklungsrisiken frühzeitig zu identifizieren und gegebenenfalls passende Hilfen einzuleiten.

Basierend auf diesen Erkenntnissen können bedarfsorientierte Angebote entwickelt werden. Wenn beispielsweise ein starkes Interesse am Bauen bei vielen Kindern festgestellt wird, können gezielt Materialien und Impulse in diesem Bereich angeboten oder entsprechende Projekte initiiert werden. Dies stellt sicher, dass pädagogische Angebote optimal auf die aktuellen Bedürfnisse und Interessen der Kinder abgestimmt sind.

Des Weiteren bildet die freie Beobachtung eine wichtige Grundlage für Elterngespräche. Durch konkrete, wertfreie Beispiele für Entwicklungsschritte oder Verhaltensweisen wird die Kommunikation mit den Eltern transparenter, nachvollziehbarer und konstruktiver. Dies schafft Vertrauen und fördert eine partnerschaftliche Zusammenarbeit. Zuletzt ermöglicht die Beobachtung der Kinder in verschiedenen Situationen auch eine Reflexion der eigenen pädagogischen Rolle. Sie hilft dabei, das eigene Handeln und die Reaktionen auf bestimmte Verhaltensweisen zu überprüfen und zu überlegen, wie das Spiel der Kinder besser unterstützt werden kann, ohne zu dominieren. Somit trägt die freie Beobachtung maßgeblich zur Überprüfung und Weiterentwicklung der eigenen professionellen Haltung bei.

Richtige Durchführung der freien Beobachtung

Die Durchführung der freien Beobachtung erfordert Übung und eine bewusste Haltung, um ihre Vorteile voll ausschöpfen zu können. Zunächst ist die richtige Haltung entscheidend: Man sollte eine neugierige und offene Einstellung einnehmen, eigene Erwartungen, Vorurteile oder schnelle Bewertungen beiseitelegen und sich ganz auf das Kind einlassen. Das Kind steht im Mittelpunkt, während man aufmerksam zuhört und beobachtet. Des Weiteren ist es wichtig, sich Zeit zu nehmen und Raum zu schaffen. Freie Beobachtung lässt sich nicht einfach „nebenbei“ erledigen. Es sollten bewusst Zeiten eingeplant werden, in denen man sich zurückziehen und beobachten kann, ohne direkt in das Geschehen einzugreifen. Dies kann während des Freispiels, beim Essen, im Morgenkreis oder auf dem Spielplatz geschehen. Ein fester Beobachtungsplatz, der eine gute Übersicht bietet, kann dabei hilfreich sein.

Ein zentrales Element ist das passive Bleiben und Nicht-Eingreifen. Während der Beobachtung sollte man möglichst passiv bleiben und nicht sofort eingreifen, wenn es zu kleineren Konflikten kommt oder ein Kind Schwierigkeiten hat. Oft lösen Kinder ihre Probleme selbst oder entwickeln neue Strategien, die man sonst nicht beobachten könnte. Hier ist natürlich Fingerspitzengefühl gefragt; Ausnahmen gelten, wenn Gefahr im Verzug ist oder das Kind eindeutig Unterstützung signalisiert.

Der Fokus auf das Kind ist ebenfalls unerlässlich. Konzentrieren Sie sich auf ein oder wenige Kinder gleichzeitig, um die Beobachtungen nicht zu verwässern. Achten Sie auf Mimik, Gestik, Körperhaltung, verbale und nonverbale Kommunikation. Wie bewegt sich das Kind? Wie klingt seine Stimme? Was drückt sein Blick aus? Auch wenn es keine festen Bögen gibt, ist es hilfreich, erste Notizen zu machen. Während oder direkt nach der Beobachtung können kurze Stichworte, kleine Skizzen oder wörtliche Zitate das Gesehene festhalten. Wichtig ist dabei, die Notizen wertfrei zu formulieren. Beschreiben Sie, was Sie sehen und hören, und nicht, was Sie interpretieren. Ein Beispiel hierfür wäre: Anstatt „Max ist aggressiv“ sollte man notieren: „Max riss dem Kind das Spielzeug aus der Hand und rief ‚Meins!’“.

Für ein klares und differenziertes Bild der kindlichen Entwicklung ist Regelmäßigkeit entscheidend. Integrieren Sie die freie Beobachtung fest in den Kita-Alltag. Nur durch regelmäßiges Beobachten über einen längeren Zeitraum können Veränderungen wahrgenommen werden.

Der tiefergehende Sinn dieser Praxisaufgabe liegt darin, dass die Schüler die Fähigkeit entwickeln, Kinder ganzheitlich und gezielt wahrzunehmen. Sie lernen, die gesammelten Eindrücke fachgerecht zu deuten, um die individuellen Interessen und Entwicklungspotenziale jedes Kindes herauszuarbeiten.

Abschließend ist die Reflexion und der Austausch nach der Beobachtung von großer Bedeutung. Überlegen Sie: Was haben Sie gesehen? Was bedeutet das für das Kind? Welche Fragen ergeben sich daraus für Sie? Wie können Sie das Kind auf Basis Ihrer Beobachtungen unterstützen? Tauschen Sie sich auch mit Kolleg:innen über Ihre Beobachtungen aus. Vier Augen sehen oft mehr als zwei, und unterschiedliche Perspektiven können sehr bereichernd sein. Dies kann im Teamgespräch oder in Supervisionen geschehen.

Richtige Dokumentation der freien Beobachtung

Für eine korrekte Dokumentation der freien Beobachtung sind einige wesentliche Punkte zu beachten. Die Dokumentation dient dazu, die gesammelten Eindrücke festzuhalten, nachvollziehbar zu machen und als Grundlage für weitere pädagogische Schritte zu nutzen. Eine strukturierte Dokumentation hilft dir, den Überblick zu behalten und deine Beobachtungen professionell zu nutzen.

Basisdaten der Beobachtung

  • Datum und Uhrzeit: Halte immer fest, wann genau die Beobachtung stattgefunden hat und wie lange sie gedauert hat (z.B. „21.05.2025, 10:15 – 10:30 Uhr“).
  • Ort der Beobachtung: Notiere, wo die Beobachtung stattfand (z.B. „Bauecke“, „Garten, Sandkasten“, „Essbereich“). Der Raum kann das Verhalten beeinflussen.
  • Beteiligte Personen: Wer war noch an der Situation beteiligt? Andere Kinder (wenn möglich mit Namen), Erwachsene, welche genau? Wie war ihre Rolle?

Beschreibung des Geschehens (Wertfrei!)

Dies ist der Kern der Dokumentation. Beschreibe präzise und objektiv, was du gesehen und gehört hast, ohne es zu interpretieren oder zu bewerten. Bleibe bei den reinen Fakten.

  • Beispiel (Schlecht – Interpretation): „Anna ist schüchtern und spielt allein.“
  • Beispiel (Gut – Beschreibung): „Anna saß allein im Lesebereich und blätterte in einem Bilderbuch. Sie blickte mehrmals zur Gruppe der Kinder, die im Baubereich spielte, ging aber nicht hinüber. Ihre Körperhaltung war leicht nach vorn gebeugt, der Blick zu Boden gerichtet.“
  • Achte auf Details: Welche Worte wurden benutzt? Wie war die Mimik (Gesichtsausdruck)? Welche Gesten und Körperbewegungen wurden ausgeführt?
  • Wörtliche Zitate können sehr aussagekräftig sein und die Situation lebendig werden lassen: („Ich kann das nicht!“, murmelte Tim leise, als der Turm, den er gebaut hatte, zusammenfiel. Er schaute frustriert auf den Boden.)

Eigene Fragen/Hypothesen

Basierend auf deinen Beobachtungen können sich Fragen ergeben. Diese kannst du hier festhalten. Sie dienen als Anstoß für weitere Beobachtungen oder Gespräche. (z.B. „Warum weicht Max den Bauklötzen immer aus? Ist das Interesse gering oder gibt es motorische Schwierigkeiten?“, „Zeigt Lena auch in anderen Situationen so viel Ausdauer und Konzentration?“)

Pädagogische Schlussfolgerungen/Nächste Schritte

Dies ist der wichtigste Teil für deine weitere Arbeit. Was bedeuten die Beobachtungen für die individuelle Förderung und Begleitung des Kindes?

  • Welche Bedürfnisse des Kindes wurden deutlich (z.B. nach Sicherheit, Autonomie, Zugehörigkeit, Anerkennung)?
  • Welche Stärken des Kindes hast du erkannt, die du fördern oder auf die du aufbauen möchtest?
  • Gibt es Auffälligkeiten, die weiterer Beobachtung bedürfen oder Anlass für ein Elterngespräch geben könnten?
  • Welche Materialien oder Impulse könntest du anbieten, um das Kind in seiner Entwicklung zu unterstützen?
  • Welche Veränderungen im Raum, im Tagesablauf oder in deiner eigenen Interaktion könnten hilfreich sein?

Beispiel: „Anna benötigt mehr Unterstützung beim Aufbau von Kontakten zu anderen Kindern. Nächste Woche werde ich sie gezielt einladen, an einem kooperativen Spiel mit zwei anderen Kindern teilzunehmen und ihre ersten Interaktionen positiv verstärken.“

Datum der Dokumentation und Unterschrift

Dies ist wichtig für die Nachvollziehbarkeit und Verantwortlichkeit.

Formate zur Dokumentation

Es gibt keine festen Vorgaben für die Dokumentation der freien Beobachtung. Du kannst ein einfaches Notizbuch, digitale Textdokumente (z.B. Word, OneNote), oder auch speziell dafür vorgesehene Beobachtungsbögen nutzen, die aber genügend Freiraum für freie Notizen lassen. Manche Kitas nutzen auch digitale Portfolio-Systeme. Wichtig ist, dass die Dokumentation für dich und ggf. für dein Team übersichtlich, gut auffindbar und nutzbar ist und die Datenschutzbestimmungen eingehalten werden. Beobachtungen sind grundsätzlich als vertraulich zu behandeln!

Häufige Praxisaufgabe während der Erzieher-Ausbildung

In der Ausbildung zum Erzieher findet die Aufgabe der freien Beobachtung meist in Verbindung mit dem ersten Praxisbesuch statt. Ihr müsst also drei freie Beobachtungen durchführen und anhand dieser ein geeignetes Angebot/Freispielimpuls planen. Die Aufgabenstellung klingt meist so:

Im Rahmen Ihrer Praxisphase führen Sie bitte drei freie Beobachtungen durch, die jeweils 3 bis 5 Minuten dauern. Konzentrieren Sie sich dabei auf dasselbe Kind, jedoch in unterschiedlichen Situationen (z.B. im Freispiel, im Garten, im Turnraum oder am Maltisch). Wählen Sie dabei Momente, in denen das Kind konzentriert und engagiert wirkt. Für jede Beobachtung erstellen Sie bitte ein detailliertes Protokoll.

Nachbereitung (zu Hause): Übertragen Sie Ihre handschriftlichen Protokolle am PC in eine Reinschrift und ergänzen Sie die Spalte für Deutungen.

Abgabe: Senden Sie die drei fertigen Beobachtungsprotokolle spätestens am 21. Mai 2021 (oder mindestens eine Woche vor Ihrem Praxisbesuch) als PDF-Dokument per E-Mail. Diese Aufgabe dient als Leistungsnachweis in BHF.

Wichtiger Hinweis: Leiten Sie die Protokolle zusammen mit Ihrer schriftlichen Vorbereitung für den Praxisbesuch auch an Ihre Praxislehrkraft weiter.

Vorlage eines Beobachtungsprotokolls

Beispiel eines Beobachtungsprotokolls

Tipps und hilfreiche Informationen

Für eine gelingende freie Beobachtung gibt es einige hilfreiche Tipps und wichtige Informationen zu beachten. Zunächst ist es entscheidend, die Rolle des „unsichtbaren“ Beobachters einzunehmen. Versuchen Sie, sich so unauffällig wie möglich zu verhalten, denn Kinder ändern oft ihr natürliches Verhalten, wenn sie merken, dass sie intensiv beobachtet werden. Finden Sie einen Platz, von dem aus Sie gut sehen können, ohne im Zentrum des Geschehens zu sein oder direkt anzustarren. Randbereiche des Raumes eignen sich hierfür oft gut.

Des Weiteren ist es wichtig, stets den Kontext des beobachteten Verhaltens zu berücksichtigen. Jedes Verhalten findet in einem bestimmten Rahmen statt. War das Kind gerade müde, hungrig oder aufgeregt? Gab es einen Streit mit einem anderen Kind oder wurde es gerade gelobt? Hatte sich eine ungewöhnliche Situation in der Kita oder zu Hause ereignet? Der Kontext hilft Ihnen, das Verhalten besser zu verstehen und nicht vorschnell zu bewerten.

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die bewusste Wahrnehmung von positiven Verhaltensweisen und Ressourcen. Es ist leicht, sich auf „problematische“ oder „auffällige“ Verhaltensweisen zu konzentrieren. Üben Sie sich jedoch darin, auch die Stärken, Interessen, Talente und positiven Interaktionen der Kinder bewusst wahrzunehmen und festzuhalten. Dies stärkt die Kinder in ihren Kompetenzen und gibt Ihnen wertvolle Ansatzpunkte für positive Verstärkung. Um eine konzentrierte Beobachtung zu gewährleisten, sollten Sie Störungen vermeiden. Schalten Sie Ihr Handy stumm und widerstehen Sie der Versuchung, sich während der Beobachtung von anderen Dingen ablenken zu lassen. Konzentrieren Sie sich voll und ganz auf das Geschehen.

Schließlich erfordert eine gute Beobachtung Geduld. Kinder entwickeln sich in ihrem eigenen Tempo, und manchmal sind die Fortschritte klein und subtil. Die Fähigkeit, auch geringe Veränderungen wahrzunehmen, ist für eine präzise Beobachtung unerlässlich.

Zusammenfassung und Fazit

Zusammenfassend lässt sich festhalten: Die freie Beobachtung ist weit mehr als eine bloße Pflichtaufgabe. Für angehende Erzieher ist sie die Grundlage für ein tiefes und authentisches Verständnis der Kinder, mit denen sie arbeiten. Sie schult nicht nur die eigene Wahrnehmung und Professionalität, sondern ermöglicht es auch, jedes Kind individuell in seiner Entwicklung zu begleiten und passende Unterstützung anzubieten. Wer diese Methode beherrscht, legt den Grundstein für eine reflektierte und qualitativ hochwertige pädagogische Praxis.

Nutzen Sie die Gelegenheit, die freie Beobachtung bewusst in Ihre Ausbildung und Ihren späteren Berufsalltag zu integrieren – sie wird zu einem Ihrer wertvollsten Werkzeuge werden!

Sebastian Götz
Sebastian Götzhttps://erzieherleben.de
Sebastian Götz ist ein engagierter Experte für frühkindliche Bildung. Er teilt sein fundiertes Wissen praxisnah auf seiner Plattform, die sich an Erzieherinnen, Erzieher und pädagogisch Interessierte richtet und Impulse für den Kita-Alltag sowie die Ausbildung bietet.

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